Eltern sind der letzte Rest

Eltern sind der letzte Rest

Von Michaela Mahler

Aktualisiert am 21.03.21

Eltern wurden bei der Priorisierung der Bevölkerung für die Corona-Impfstrategie nicht berücksichtigt. Damit wird ihnen einmal mehr ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz abgesprochen. Dabei spräche auch aus epidemiologischer Sicht einiges dafür, Eltern vorzeitig zu impfen.

Die öffentlichen Debatten zum Thema Covid-19 Schutzimpfung drehten sich bislang um eine zu zögerliche Beschaffung der Impfstoffe, die schlechte Logistik bei der Impfstoff-Distribution und zuletzt den Impfstopp von AstraZeneca. Einem Thema kommt dabei vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zu und das ist die Priorisierung der Bevölkerung innerhalb der Stufenpläne.

Zur Priorisierung der Impfungen hat die Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut (STIKO) in Zusammenarbeit mit dem deutschen Ethikrat und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina Vorschläge erarbeitet, auf deren Grundlage die Nationale Impfstrategie des Gesundheitsministeriums konzipiert wurde. Die Priorisierung hat zum Ziel, gefährdeten oder gesellschaftlich besonders relevanten Personengruppen bevorzugt ein Impfangebot machen zu können. Dabei sieht der Stufenplan der STIKO sechs Gruppen vor, die in der Coronavirus-Impfverordnung schließlich zu den drei Gruppen höchste, hohe und erhöhte Priorität zusammengefasst werden und stillschweigend eine vierte Gruppe beinhaltet, die Restgruppe der Personen ohne Priorität. Diese vierte Gruppe entspricht im Stufenplan der STIKO der größten und letzten Gruppe 6 und versammelt alldiejenigen, denen kein erhöhter Risikograd und keinerlei Systemrelevanz zugeschrieben wird. Eine Sammelgruppe, die laut RKI einen Anteil von 45% ausmacht – die sogenannte breite Bevölkerung. In dieser Gruppe befinden sich auch alle Eltern (zumindest dann, wenn sie nicht auf Grund von Risikosituation, Berufsgruppe oder Pflegegrad von Angehörigen bereits eine höhere Priorisierung erhalten haben).

Die Rolle der Eltern im Infektionsgeschehen

Aber auch das ist nicht die ganze Wahrheit. Denn es gibt da ja noch die Kinder. Für sie ist derzeit noch gar kein Impfstoff zugelassen, weshalb sie in der Debatte um die Priorisierung auch nicht auftauchen. Auch wenn für Kinder ein schwerer Verlauf einer Covid-19 Erkrankung sehr unwahrscheinlich ist, so werden mit zunehmender Anzahl von infizierten Kindern auch immer mehr Fälle von Kindern mit schwereren Verläufen hinzukommen, so wie es in Ländern wie Schweden oder Großbritannien während der zweiten Welle zu beobachten war. Auch über die Spätfolgen, über sogenanntes Long Covid bei Kindern, weiß man derzeit noch vergleichsweise wenig. Umso wichtiger ist ein gewisser Herdenschutz in den Gemeinschaften, in denen Kinder sich bewegen. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey sprach deshalb im Rahmen der schier endlosen Debatten um das Öffnen oder Schließen von Schulen bereits am 14. Januar auf einer Pressekonferenz davon, dass Kinder, solange sie noch nicht selbst geimpft werden können, mit einer „Cocon-Strategie“ geschützt werden sollen, indem „alle Erwachsenen, die um Kinder herum sind, auch einen entsprechenden Impfschutz, so schnell es irgend geht, haben können“. Denn auch wenn eine Unterbrechung der Infektionsketten durch Geimpfte noch nicht abschließend belegt ist, so gibt es bisher starke Indikatoren dafür, dass die Ansteckungsgefahr durch Geimpfte zumindest stark verringert ist.

Die nun seit einem Jahr anhaltende Debatte um die Rolle der Kinder in der Pandemie zeigt auf, welcher gesellschaftliche Fokus auf dem sicheren Betrieb von Schulen und Kitas liegt. Seit fast einem Jahr fragen wir uns, welche Rolle spielen Kinder für die Pandemie, welche Rolle spielt die Pandemie für Kinder. Es herrscht weitgehender Konsens, dass Kinder unter den Einschränkungen leiden und dass es ihnen so schnell es geht ermöglicht werden muss, wieder einem geregelten Alltag nachzugehen und die verpassten Bildungschancen einzudämmen. Für den Infektionsschutz an Schulen und Kitas wurde von Seiten der Politik hingegen wenig getan. Aus diesem Grund wurden Lehrerkräfte und Erzieher*innen ziemlich schnell und ohne viel Aufhebens in der Impf-Priorisierung vorgezogen. Zu ihrem eigenen Schutz und zum Schutz der Kinder. Im Falle der Eltern scheint es derzeit noch nicht einmal eine öffentliche Debatte zu geben. Aber auch sie spielen beim Thema Infektionsgeschehen in Schulen eine wichtige Rolle, denn sie sind das Bindeglied zwischen Kindern und Gesamtgesellschaft. Über Eltern werden Infektionen in die Einrichtungen hineingetragen und Eltern verbreiten wiederum Infektionen, die aus den Schulen und Kitas in die Haushalte gelangen.

Sieht man also die Bildungsstätten als das, was sie sind, nämlich Orte an denen täglich Menschen aus vielen unterschiedlichen Haushalten zusammenkommen, muss man die Tatsache ernst nehmen, dass auch sie einen gewissen Einfluss auf das allgemeine Infektionsgeschehen haben – wenn auch sie neuesten Studien zufolge nicht als „die Treiber“ der Pandemie gelten. Nichtsdestotrotz gilt, alle geschlossenen Räume, in denen Menschen aufeinandertreffen, spielen für den Verlauf der Pandemie eine Rolle. Auch der Infektionsforscher Michael Meyer-Hermann, der die Bundesregierung in der Pandemie berät, sagte in einem Interview mit dem Tagesspiegel, dass er aus epidemiologischer Sicht empfehlen würde „dass man die Menschen nach der Menge ihrer Kontakte in Gruppen einteilt und entsprechend priorisiert: Menschen mit vielen Kontakten werden zuerst geimpft. Das hätte eine viel größere Wirkung.“

Eltern minderjähriger Kinder sind per se pflegende Angehörige. Sie können sich nicht schützen, können keinen Abstand halten, sie essen manchmal vom selben Teller, sie schlafen mitunter im selben Bett wie ihre Kinder. Und das tun sie auch, wenn die Kinder wieder in die Schulen gehen. Eine Familie mit zwei Kindern kann durch den Schulbesuch der Kinder je nach Schul-Typ mit mehreren hundert anderen Haushalten verbunden sein. Also ist es auch nur legitim zu berücksichtigen, dass Eltern gegenüber Menschen, bei denen keine Kinder im Haushalt leben, einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Familien leben zudem auf engerem Raum und dass beengter Wohnraum ein Risikofaktor für eine Infektion mit dem Coronavirus ist, belegte jüngst eine Studie aus Frankreich.

Eltern sind in unserer Wahrnehmung nicht systemrelevant

Der Faktor, der neben den erhöhten gesundheitlichen Risiken für die Priorisierung in der Impfreihenfolge ausschlaggebend ist, ist die Relevanz einer Personengruppe für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens. So heißt es im Positionspapier der STIKO, des Deutschen Ethikrats und der Leopoldina: „Darüber hinaus sind Personen zu schützen, die für das Gemeinwesen besonders relevante Funktionen erfüllen und nicht ohne Probleme ersetzbar sind.“ Im letzten Frühjahr haben wir als Gesellschaft ein Gefühl dafür entwickelt, dass neben Berufsgruppen aus dem medizinischen Bereich auch Angestellte im Supermarkt oder Paketzusteller*innen systemrelevant sind. Eltern nicht. Das wird während der gesamten Pandemiebekämpfung immer wieder deutlich.

Sowohl die Eltern als auch die Kinder haben bisher in dieser Pandemie die Hauptlast getragen. Das kollektive Kontaktbudget, das uns als Gesellschaft zur Verfügung steht, um die Inzidenzwerte nicht durch die Decke gehen zu lassen, wird entgegen aller Beteuerungen (wir erinnern uns, dass die Schulen als letztes geschlossen und als erstes wieder geöffnet werden sollten) konsequent auf Kosten der Kinder und zugunsten von Erwachsenen verteilt, die ihrem Arbeitsalltag oft uneingeschränkt nachgehen können. Das alles, um die wirtschaftlichen Folgen abzumildern. Was aus den pandemiegebeutelten Biographien der Kinder wird, ist nachrangig. Berufstätige Eltern sitzen seit Monaten mit ihrem Nachwuchs zu Hause und zerreißen sich zwischen ihrem Job, der Kinderbetreuung und dem Homeschooling. Eltern haben die Lasten dieser Pandemie für alle anderen geschultert. Dass Eltern und Kinder in mancher Hinsicht eine untrennbare Einheit sind, wird gerade in der Pandemie besonders deutlich. Maßnahmen, die Eltern betreffen, haben so gut wie immer auch Auswirkungen auf die Kinder. Maßnahmen, die Kinder betreffen haben Auswirkungen auf die Eltern.

Eltern leisten Care-Arbeit. Wenn Eltern an Covid erkranken, sind im selben Haushalt lebende Kinder automatisch Kontaktpersonen ersten Grades und müssen damit in Quarantäne. Was aber, wenn Eltern so krank werden, dass sie sich nicht mehr selbst kümmern können? Was, wenn sie gar ins Krankenhaus müssen? Diese Frage stellen sich derzeit viele Eltern. Am eklatantesten ist diese Angst dabei für Alleinerziehende und für Eltern mit Kindern, die eine Behinderung haben. Denn Alleinerziehende haben nicht immer jemanden im Umfeld, der oder dem gerade kleinere Kinder einfach überlassen werden können und auch Kinder mit Behinderung können nicht beliebig von irgendjemandem betreut und versorgt werden. Aus diesem Grund ist es fast schon ein Skandal, dass zumindest letztere nicht per se eine höhere Priorität in der Impfreihenfolge bekommen. Stattdessen findet sich mancher Verwaltungsbeamte höheren Rangs, der seit Monaten die Möglichkeit hat, im Homeoffice zu arbeiten, in der Impfgruppe drei mit erhöhter Priorität.* Ob diesem in seiner Funktion mehr gesellschaftliche Relevanz zukommt als Eltern, bleibt zu diskutieren.

Dass Eltern bei dem Begriff systemrelevant nicht mitgemeint sind, ist ein Problem, das es nicht erst seit Corona gibt, jedoch wie viele anderen gesellschaftlichen Defizite durch die Pandemie nun an die Oberfläche gespült wird. Sorgearbeit wird in unserer Gesellschaft nicht als gleichwertige Arbeit wahrgenommen und daher auch nicht entlohnt. Dass Sorgearbeit das gesellschaftliche Fundament für unsere Zukunft bildet, spielt keine Rolle. Kinder zu bekommen ist ein Privatvergnügen und hat daher nichts in volkswirtschaftlichen Berechnungen verloren. In der Debatte um die Anerkennung von Care-Arbeit wird oft das Narrativ bedient, dass man sich das Elternsein ja schließlich selbst ausgesucht hat und man das gerne tut. Anerkennung oder gar Entlohnung hat man dafür nicht zu erwarten. Die Währung, in der Entlohnung für die Sorgearbeit von Eltern gezahlt wird, ist Kinderlachen. Und mit dieser Wahrnehmung fehlt uns auch das Bewusstsein für die Relevanz von Eltern in der Pandemie. Dass Elternsein kein bezahlter Beruf ist, rückt sie automatisch aus dem Fokus, wenn es um die Einteilung systemrelevanter Gruppen in der Impf-Priorisierung geht. Dass Eltern nun auch hier wieder vergessen werden, mag auch daran liegen, dass Elternsein per se als Selbstverständlichkeit empfunden wird. Da gibt es nichts weiter zu berücksichtigen. So wie es eine Selbstverständlichkeit ist, dass Eltern mehr Belastungen übernehmen als andere und dafür weniger Geld bekommen, obwohl sie für die Gesellschaft und für die Volkswirtschaft viel leisten.

Und wenn sich jetzt hier und da vorsichtig Stimmen erheben, die dafür plädieren, dass Eltern doch zumindest innerhalb der letzten großen Restgruppe (Gruppe 6 Nach STIKO-Stufenplan), die fast die Hälfte der Bevölkerung beinhaltet, priorisiert geimpft werden sollten, dann gibt es sofort Gegenstimmen und Menschen, die darüber die Naserümpfen, so wie sie es immer tun, wenn Eltern darauf aufmerksam machen, dass sie große Belastungen tragen. Weil unsere Gesellschaft grundsätzlich die Nase rümpft, wenn Eltern für ihre Rechte eintreten. Sei es in der Arbeitswelt oder in der Pandemie. Neben den gesundheitlichen und epidemiologischen Argumenten fürs Elternimpfen wäre es von Seiten der Politik auch ein Zeichen der Anerkennung dessen, was Eltern für die Gesellschaft leisten. Anführen müssten die letzte Impfgruppe Eltern von Kindern mit Behinderung und Alleinerziehende – sofern diese nicht sowieso in eine höhere Priorisierungsstufe fallen** – und schließlich alle anderen Eltern. Das wäre mehr als gerechtfertigt. Und es wäre nur Fair eine Priorität auf sichere Schulen und Kitas zu setzen, zu denen auch geimpfte Eltern beitragen, um neben den Kindern auch die Eltern wieder zu entlasten.

Foto: Dan Burton

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* Auf Nachfrage beim Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, welche Personengruppen der Verfassungsorgane / Regierung / Verwaltung / Justiz konkret unter die Klassifizierung besonders relevant fallen, bekam ich folgende Antwort:

„Gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 4 CoronaImpfV haben Personen, die Mitglieder von Verfassungsorganen sind oder in besonders relevanter Position in den Verfassungsorganen, in den Regierungen und Verwaltungen, bei der Bundeswehr, bei der Polizei, beim Zoll, bei der Feuerwehr, beim Katastrophenschutz einschließlich des Technischen Hilfswerks, in der Justiz und Rechtspflege, in den Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland oder bei Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit mit Sitz in der Bundesrepublik Deutschland tätig sind, Anspruch auf Schutzimpfungen mit erhöhter Priorität.

Eine (abschließende) Liste kann aufgrund der Vielzahl der erfassten Einrichtungen, Behörden und Personen nicht erstellt werden.

Personen, die in besonders relevanter Position tätig sind, nehmen wichtige Aufgaben innerhalb der Einrichtungen wahr, zum Beispiel solche, die aufgrund ihrer Spezialisierung und ihrer Dringlichkeit nicht oder nur schwer durch weitere Personen wahrgenommen werden können. Die Entscheidung hierüber trifft jede Stelle in eigener Verantwortung.“

** Auf Nachfrage beim Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, ob Alleinerziehende und Eltern von Kindern mit Behinderung zu den Personen mit prekären Arbeits- oder Lebensbedingungen zählen, erhielt ich folgende Auskunft:

 „Gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 9 Coronavirus-Impfverordnung (CoronaImpfV) haben Personen mit prekären Arbeits- und Lebensbedingungen Anspruch auf Schutzimpfung mit erhöhter Priorität.

Hierunter können ausweislich der durch das Bundesministerium für Gesundheit gegebenen Verordnungsbegründung beispielweise befristet Beschäftigte, Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer, Personal in Zeitarbeit, geringfügig Beschäftigte, Inhaftierte, Saisonarbeiterinnen und -arbeiter, Mitarbeitende in der fleischverarbeitenden Industrie, Personal in Verteilzentren von Paketdiensten, Personal in Teilzeit mit 20 oder weniger Stunden, Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger sowie Personal an Arbeitsplätzen mit vielen Personen in unzureichend mit Frischluft versorgten Räumen, in denen Abstand halten schwierig oder unmöglich ist und Schutzkleidung nicht oder nicht korrekt getragen wird, fallen.

Diese Anspruchsberechtigten haben ihre Berechtigung durch Nachweise gemäß § 6 Abs. 4 Nr. 2 CoronaImpfV gegenüber den Leistungserbringern darzulegen. Dafür kommen zum Beispiel Bescheinigungen der Arbeitgeber oder der zuständigen Behörden in Betracht.“

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