Familienministerin in der Krise

Familienministerin in der Krise

Von Michaela Mahler

Der Fall Anne Spiegel zeigt die strukturellen Gründe auf, aus denen Mütter kleiner Kinder kaum politische Repräsentation erfahren.

Nun kam er also doch noch, der Rücktritt von Bundesfamilienministerin Anne Spiegel am Montagnachmittag, nachdem er sich durch eine aufsehenerregende Pressekonferenz am späten Sonntagabend bereits abgezeichnet hatte. Die Ministerin wirkte deutlich angeschlagen und versuchte, mit sichtbar schwindender Kraft zu erklären, weshalb sie zehn Tage nach der Flutkatastrophe im Ahrtal mit ihrer Familie in einen vierwöchigen Urlaub nach Frankreich fuhr, obwohl sie als Umweltministerin in Rheinland-Pfalz neben anderen für den Katastrophenschutz zuständig gewesen ist. Ihre Begründung lässt sich knapp zusammenfassen: Ein Jahr Pandemie mit vier kleinen Kindern – alle im Kindergarten und Grundschulalter – zehrte sehr. Hinzu kommt die Erkrankung ihres Mannes, der die Aufgaben der Familienfürsorge wohl zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vollumfänglich erledigen konnte. Viele Eltern können Spiegels Sätze nachvollziehen und auch den Zustand mitfühlen, in dem sie sich auf der Pressekonferenz befand, sind sie doch gerade selbst zwei Jahre mit ihren Familien durch die Pandemie-Hölle gegangen.

Anne Spiegel und ihre Familie stehen an diesem Sonntagabend stellvertretend für all die Familien, die durch die Corona-Pandemie an ihre Belastungsgrenzen gebracht wurden. Belastungsgrenzen, die auch vorpandemisch für Menschen mit Care-Aufgaben bereits oft überschritten waren. Inzwischen ist wissenschaftlich gut aufgearbeitet, was die Pandemie für Familien und insbesondere Mütter bedeutet. So musste laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung jede fünfte Frau ihre Arbeitszeit reduzieren, mit allen Konsequenzen, die das nach sich zieht: Geplatzte Projekte, verpasste Aufstiegschancen, abgebrochene Karrieren. Familien standen oftmals vor einer Zerreißprobe, viele Mütter und manchmal auch Väter vor dem Burn-Out.

Mit ihrem Rücktritt reiht sich nun also auch die scheidende Familienministerin in die Zahl der Mütter, deren Arbeitspensum sich nicht an pandemische Bedingungen und anderweitige private Belastungen anpassen ließ und die sicherlich auch deshalb Fehler machte und in der Konsequenz dazu gezwungen war, ihre Karriere nun vorerst zu beenden. Sie steht dadurch dieser Tage, wie keine andere Ministerin und kein anderer Minister, für die Bevölkerungsgruppe, deren Repräsentantin sie war. Eine Bevölkerungsgruppe, die von der Politik konsequent „vergessen“ wird.

Was uns zu der Frage bringt, wie wir politische Repräsentation in Zukunft denken möchten. Wer repräsentiert Eltern und Kinder besser, als eine Mutter, die selbst mit den realen Belastungen gerade junger Familien konfrontiert ist? Wollen wir wirklich von Menschen regiert werden, die jenseits aller persönlichen Erfahrungen und lediglich als Polit-Profis ihre Ämter führen? Der Druck des politischen Betriebs sorgt dafür, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen systematisch benachteiligt sind, wenn es um die Vergabe politischer Ämter und insbesondere Spitzenpositionen geht. So sind neben Menschen mit bestimmten Erkrankungen unter anderem auch Mütter kleiner Kinder deutlich unterrepräsentiert. Einfach deshalb, weil sie naturgemäß die Anforderungen, die im Politikbetrieb gestellt werden, nur schwer erfüllen können. Dabei wäre es so wichtig, dass gerade die Belange dieser Menschen bei politischen Entscheidungen Gehör finden.

Erinnern wir uns daran, welch trauriges Dasein das Familienministerium zuletzt fristete, nachdem die damalige Ministerin Franziska Giffey nach einer Plagiatsaffaire zurückgetreten war, um sich auf ein anderes lukratives Amt vorzubereiten und ihr Posten indes nicht nachbesetzt wurde, sondern kommissarisch von der damaligen Justizministerin Christine Lambrecht mitübernommen wurde. Begründet wurde dieser Schritt damit, dass alle Aufgaben des Ministeriums bereits erledigt seien: „Ich bin stolz darauf, was ich in über drei Jahren Regierungsarbeit im Bund erreichen konnte. Gemeinsam mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, mit der Bundeskanzlerin, den Kolleginnen und Kollegen im Kabinett und mit den Bundestagsabgeordneten der Koalitionsfraktionen ist es mir gelungen, alle Aufträge aus dem Koalitionsvertrag in meinem Ressort durch die Kabinettsbeschlussfassung zu bringen“, so Giffey in ihrer Rücktrittserklärung. Was für ein Hohn gegenüber all den Familien, die genau zu diesem Zeitpunkt – im Sommer 2021 – Corona bedingt feststellen mussten, dass für sie nichts funktioniert und die ihre Repräsentation in der Regierung damit quasi verloren hatten.

Besonders Mütter jüngerer Kinder haben während der Pandemie das Vertrauen in die Politik verloren, so das Ergebnis einer Analyse der Soziologin Sonja Bastin und Kai Unzicker von der Bertelsmann Stiftung. Die Frage nach der politischen Repräsentation ist dabei jedoch kein Wohlfühl-Problem von Familien. Laut einer aktuellen Umfrage des Allensbach-Instituts ist rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung der Meinung, in einer Scheindemokratie zu leben. Eine Entwicklung, die für die politische Lage im Land gefährlich werden könnte.

Anfang April sorgte Robert Habeck bei Markus Lanz für Aufmerksamkeit, als er sagte: „Wir ziehen mit unserem täglichen Leben eine Spur der Verwüstung durch die Erde und kümmern uns da noch nicht drum“. Kurz darauf wurde er laut einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF zum beliebtesten Politiker, was den Gedanken nahelegt, ob es nicht genau diese Art von Politiker*innen sind, die unsere Gesellschaft braucht, um dem Demokratieverdruss entgegenzutreten. Sei es Habeck mit ungewohnt schonungsloser Direktheit oder eben Anne Spiegel, die ein Ressort geleitet hat, dass sie selbst verkörpert, wie kaum eine andere.

Dass all diese Überlegungen in der aktuellen Debatte um Spiegels Rücktritt kaum Platz finden, zeigt einmal mehr den blinden Fleck, den unsere Gesellschaft in Bezug auf die Care-Krise hat. Die Soziologin Bettina Kohlrausch bringt es auf den Punkt, wenn sie auf Twitter schreibt: „Unabhängig von der Frage, ob der Rücktritt von Spiegel richtig war oder nicht: wären wir während der Pandemie von mehr Menschen regiert worden, die die Last der Sorgeverantwortung kennen, wären viele Entscheidungen anders und vermutlich besser getroffen worden. Es ist für uns alle ein Problem, dass die Strukturen in der Politik Menschen mit bestimmten Erfahrungen systematisch ausschließen. Dazu gehören auch die, die sich diesen extremen Belastungen aus anderen Gründen nicht aussetzen können oder wollen. Es fehlen wertvolle Perspektiven.“

Klar gibt es im Fall Anne Spiegel Gründe für sachliche Kritik. Solche waren in den vergangenen Jahren jedoch selten Anlass für einen Rücktritt, denkt man an Masken-Deals, Spendendinner, Cum-Ex oder an die gescheiterte PKW-Maut. Der Grund für Spiegels Rücktritt liegt eher in ihrer Überforderung und diese ist unter anderem bedingt dadurch, wer sie ist: Eine Mutter von kleinen Kindern und das auch noch während einer Pandemie. „Es ist ein strukturelles Problem, das dann in der konkreten Situation als individuelle Verantwortung aufschlägt“, so Kohlrausch.

Die Corona-Pandemie hat vielen Frauen die berufliche Zukunft verbaut oder sie zumindest in ihren Karrieren zurückgeworfen. Stellvertretend für die Vielen nun auch die Familienministerin. Eigentlich nichts Besonderes. Aber diesmal eben sehr sichtbar und gleichzeitig auch nicht.

Foto: IMAGO / Sven Simon

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